Ziele und Relevanz des Projektes
Ziel des Projekts ist eine kritische Ausgabe von zwölf autograph überlieferten Werken Otlohs von St. Emmeram, die nur in frühneuzeitlichen Drucken greifbar sind. Bislang sind drei große und eine Handvoll kleinerer Werke Otlohs nach modernen Standards kritisch ediert worden; das Projekt wird alle noch ausstehenden autograph überlieferten Opera erfassen, und nach seinem Abschluss wird das gesamte autographe Œuvre Otlohs der Forschung in kritischen Editionen zur Verfügung stehen. Zusammengenommen umfassen die autographen Texte in den Handschriften etwas über 300 Folien; davon entfallen drei Fünftel auf die in diesem Projekt zu edierenden Texte. Die Konzentration auf autographe Texte erfolgt nicht allein aus arbeitsökonomischen Gründen, sondern vor allem deshalb, weil eine derart umfangreiche autographe Überlieferung für einen hochmittelalterlichen Autor außergewöhnlich ist und eine eingehende Untersuchung, wie sie mit einer Edition verbunden ist, verdient.
Die Anlage der Edition wird eine Unterscheidung zwischen den von Otloh als abschließend erachteten Fassungen der Schriften und seinen späteren Texteingriffen ermöglichen. Außerdem wird die Tragweite der Texteingriffe (Korrektur von Fehlern, konzeptionelle Änderungen, Erweiterungen) deutlich werden, und es wird sichtbar werden, in welchem Umfang Otloh auf Vorlagen zurückgriff und welche Zitate, Vergleiche oder Sprachbilder immer wieder in seinen Werken vorkommen.
Über die naheliegenden philologischen Gesichtspunkte hinaus werden sowohl die Arbeit an der Edition als auch das Ergebnis, die Edition selbst, in mehrfacher Hinsicht Relevanz besitzen und interdisziplinär von Interesse sein.
Relevanz für Paläographie und Handschriftenkunde
Mit der Transkription der Texte soll eine paläographische Untersuchung der Handschriften einhergehen, bei der besonders auf Details zu achten ist, die für die Unterscheidung der Hand des Mönchs von anderen Händen unerlässlich sind. Die bereits vor Jahren begonnenen Debatten über die Erkennbarkeit der Hand Otlohs als Kopist oder Korrektor in den Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek werden somit vertieft untersuchtes Material erhalten, das auch neue Debatten über weitere Codices, die Otloh zugeschrieben werden, anregen kann. Die Digitalisierung einer immer größeren Anzahl von Handschriften erleichtert paläographische Vergleiche von Codices, in denen Otlohs Hand erkennbar ist. Mit den paläographischen Vergleichen wird die kritische Neuausgabe die typischen Merkmale von Otlohs Art zu schreiben (für Text und Korrekturen sowie Glossen) besser bestimmen. Diese Informationen können für eine endgültige Erkennbarkeit der Hand Otlohs im Rahmen der Handschriftenkatalogisierung gegebenenfalls nützlich sein. Als Kopist, der in verschiedenen Klöstern tätig war, kann seine Figur weitere Projekte im Zusammenhang mit der Geschichte der Klöster als Schreibzentren anregen. Handschriften, in denen Otloh fremde Texte kopierte oder annotierte, werden nicht nur in der Bayerischen Staatsbibliothek, sondern auch in anderen Bibliotheken aufbewahrt. Eine Ausweitung des Interesses auf diese Handschriften würde bedeuten, ein vollständiges paläographisches Bild von Otloh als Kopist zu erarbeiten, Verknüpfungen der an verschiedenen Orten kopierten Autoren und Texte herzustellen und die Codices mit dem Leben des Mönchs und den Schreibzentren, in denen er tätig war, in Verbindung zu setzen.
Relevanz für Fragen der Textgenese
Durch kalligraphische Perfektion, Rubrizierung und – wenn auch bescheidene – Initialen zeugen die Reinschriften Otlohs von der Wertschätzung, die er seinen eigenen Werken entgegenbrachte. Er wollte sie St. Emmeram als 'Ausgabe letzter Hand' hinterlassen. Doch belegen die zu edierenden Texte auch Otlohs Gewohnheit, an der Reinschrift weiterzuarbeiten und infolgedessen das ästhetische Erscheinungsbild durch Rasuren, Korrekturen und Glossen zu beeinträchtigen. Auf den ersten Blick ist zu sehen, dass die Spuren der Bearbeitung unterschiedlicher Qualität sind. Otloh korrigierte beim Schreiben seine Texte in einem zeitnahen Korrekturgang relativ unauffällig mit derselben Feder und Tinte, aber er las sie später noch mehrmals durch und nahm dann ins Auge springende Veränderungen mit anderer Feder und Tinte vor. Diese Bearbeitungsspuren müssen genau untersucht werden, um zeitliche Schichtungen erkennen und Aussagen darüber treffen zu können, ob und wie sich die Art der Eingriffe änderte. Als zu überprüfende Arbeitshypothese ist anzunehmen, dass Otloh zunächst nur Schreibfehler und ausgelassene Wörter korrigierte, bei der späteren Lektüre aber Wörter austauschte, die Syntax veränderte oder Glossen einfügte, die von kommentierenden Anmerkungen bis zu Variationen und Ergänzungen zu den im Text dargelegten Gedankengängen gehen. Jedenfalls beleuchten diese Vorgänge Otlohs Überlegungen und das Fortschreiten seines Denkens. Rein formale Texteingriffe könnten zwar für die Akribie des Mönchs sprechen, aber konzeptionelle Texteingriffe würden andere Überlegungen erfordern und sollten im Zusammenhang mit den aus dem Liber de temptatione cuiusdam monachi oder dem Liber visionum bekannten Anschauungen Otlohs bewertet werden. Bearbeitungsspuren finden sich nicht gleichermaßen in allen Texten Otlohs. Die bei der Arbeit an den zu edierenden Texten gewonnenen Erkenntnisse müssen in eine Beziehung speziell zu den im Liber de temptatione cuiusdam monachi festgestellten Bearbeitungsspuren gesetzt werden, und mit Blick auf das Gesamtwerk muss untersucht werden, welche Texte Otloh derart beschäftigten, dass er sie wiederholt las und veränderte. Eine Untersuchung dieser Spuren wird das Bild Otlohs als Autor besser konturieren und neue Aspekte zu dem vielbehandelten Thema autobiographischen Schreibens bei Otloh beitragen.
Relevanz für Kirchengeschichte, Theologie/Philosophie, Bildungsgeschichte
In den Werken Otlohs spiegeln sich die großen Ideen der Kirchenreform, deren Erstarken in seine Lebenszeit fällt, und monastische Probleme, sowohl was das Zusammenleben im Kloster als auch was die Stellung der Klöster in ihrer sozialen und politischen Umwelt betrifft. St. Emmeram in Regensburg stand im 11. Jahrhundert auf einem Höhepunkt seiner geistigen Produktivität, an der Otloh als langjähriger Leiter der Klosterschule einen (allerdings schwer zu bestimmenden) Anteil hatte. Die Bekanntheit seiner Person hat dazu verleitet, ihn bei den Fälschungsaktionen, die das Kloster unter dem Druck der Spannungen mit den Regensburger Bischöfen ins Werk setzte, als spiritus rector zu sehen, doch ist inzwischen festgestellt, dass er nicht der Autor der jüngeren Translatio s. Dionysii war, wenngleich seine Mitwirkung an Urkundenfälschungen weiter im Raum steht. Die kritische Edition eines großen Teils von Otlohs Schriften wird zur Erhellung seiner Verortung im geistigen Klima und seiner Position in der Literatur des 11. Jahrhunderts beitragen. Da sich unter den zu edierenden Texten sowohl Otlohs frühestes größeres Werk als auch Werke aus seinen letzten Lebensjahren befinden, kann die Entwicklung seines Stils und Denkens diachron in Texten mit unterschiedlichen theologisch-philosophischen Schwerpunkten verfolgt werden, insbesondere seine wachsende Neigung zur Zeitkritik, die als historisches Phänomen von großem Interesse ist. In seinen letzten Lebensjahren war Otloh überzeugt, dass das Ende der Zeiten bevorstehe, das sich in Fehlverhalten auf allen Stufen der menschlichen Gesellschaft und speziell in der von ihm diagnostizierten Auflösung sozialer Schranken anzukündigen schien. Innerhalb der monastischen Gemeinschaft vermisste er bei vielen Mitbrüdern die scribendi atque dictandi notitia, die er sich selbst zuschrieb. Wie ausgedehnt seine Lektüre war, welche Autoren ihm in den Bibliotheken seiner Klöster zur Verfügung standen, ob er in Stil und Themenwahl durch seine Lektüre beeinflusst wurde und ob sich dabei Entwicklungen ergaben, wird sich durch den Nachweis der Vorlagen (Heilige Schrift, klassische, patristische, mittelalterliche Autoren) besser ermessen lassen. Die kritische Edition der autographen Werke wird somit auch einen Beitrag zur klösterlichen Bildungsgeschichte leisten.
Relevanz für mentalitäts- und kulturgeschichtliche Fragestellungen
Es greift zu kurz, Otloh als einen vor allem theologischen und philosophischen Autor im engen Sinn einzuordnen. Sein Werk verrät nicht nur eine fortwährende Introspektion, sondern auch eine wache Wahrnehmung der diesseitigen Welt, deren plastische Explizitheit durch die pastoralen und exegetischen Anliegen seiner Texte nicht immer gedeckt ist, sondern bisweilen deren Grenzen mit überschießender Detailfreude überschreitet. Otlohs Werk wird dadurch zu einer Fundgrube für mentalitäts- und kulturgeschichtliche Beobachtungen.
In seinen Texten stecken nicht nur historische Anspielungen auf Auseinandersetzungen zwischen Klöstern und Bischöfen oder der Kirchenreform verpflichtete Erwägungen über die unterschiedlichen Aufgaben und Verhaltensnormen von Klerikern und Laien. Über die kirchengeschichtlichen Bezüge hinaus bietet Otlohs Werk Anknüpfungspunkte verschiedener Art: zur Geschichte der Naturbeobachtung, der Sexualität, der Medizin, des Klimas, der Mode.